Gegenwelten – Abgesang

(Auftragskomposition der Internationalen Bachakademie, Stuttgart 2008)

Patrick Bebelaar piano, komposition
Michel Godard tuba, serpent, e-bass
Herbert Joos trompete, flügehorn
Garvino Murgia flöte, saxofon, stimme
Frank Kroll bassklarinette, saxofon

Im Jahr 2008 erhielt Patrick Bebelaar bereits zum dritten Mal eine Auftragskomposition der Internationalen Bachakademie Stuttgart. Nachdem es bei in den ersten beiden Kompositionen um Beethoven und Bachs H-Moll Messe ging, war dieses Mal „Die Kunst der Fuge“ das bestimmende Werk, durch das Bebelaar sie inspirieren ließ. Der spielerische Umgang mit Themen und Motiven ist hierbei zum Stilmittel geworden. Noch nach der Uraufführung 2008 beim Europäischen Musikfest in Stuttgart, arbeitete Bebelaar weiter an der Komposition und nahm sie dann wenig später in den Bauer Studios in Ludwigsburg auf. Mit von der Partie sind erneut die langjährigen Weggefährten Bebelaars, Herbert Joos, Michel Godard und Frank Kroll.
Joos und Godard zählen weltweit zu den renommiertesten ihres Faches und begeistern auch auf dieser Aufnahme durch ihren exzentrischen und außergewöhnlichen Personalstil am Instrument. Der eigenständige Klang der Band wird noch durch den Obertonsänger Gavino Murgia aus Sardinien verstärkt. International machte er sich vor allem durch seine Auftritte mit Rabbi Abou Khalil einen Namen. Sowohl als Sänger mit perfektionierter Obertongesangstechnik, aber auch als Saxofonist ist er sehr von den Traditionen Sardiniens geprägt.

Peregrina
Zugegeben, der Auftrag war skurril: zwei einander unbekannte Jazzkomponisten mit ihren Formationen sollten zum Europäischen Musikfest Stuttgart 2008 aufeinander treffen: Die dahinter stehende Idee zielte auf ein gemeinsames Spiel, zum Einen mit musikalischem Material aus Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge, zum Anderen auf voneinander inspirierte Improvisationen. Seinen Anteil an dieser Gemeinschaftskomposition hat Patrick Bebelaar nun zu einer eigenen Komposition entwickelt: Gegenwelten Abgesang. Unterschiedliche Traditionsstränge sind ihr wie Urlinien eingewoben: Hintergründig verborgen zum Beispiel als kaum wahrnehmbares (oder nur für den intimen Kenner zu entschlüsselndes) altes musikalisches Material, mit dem gespielt wird. Musikalische Gedanken in ihrer Instrumentenkombination gravieren der Komposition ein ganz und gar eigenes Klangrelief ein, nicht zuletzt durch die Interpreten, die ihre jeweils unverwechselbar eigene musikalische und kulturelle Sozialisation mit einbringen.
Zu Beginn ein Ruf (01): Aus allen möglichen Orten der Welt kommen die Musiker zusammen, lassen hören, dass sie da sind, ›was‹ sie präsentieren. Knappe Frage- und Antwort-Fragmente verweigern größere Zusammenhänge, Kontraste und Abruptes entstehen, von der Komposition zu einer wiederkehrenden Konstellation erhoben. Klavier und Stimme, die dem Entrée bisher nur gelauscht haben, schaffen sich Raum (02), wobei die Stimme ihr Fundament für die Entfaltung der Klänge in die Obertonwelt und die Entwicklung feinsinniger Strukturen von Takt und Rhythmus legt. Mit diesen Elementen in Mischung und Entwicklung spielt die Komposition in immer wieder überraschenden Kombinationen. Der Rufcharakter zum Beispiel ist in manchen Tracks zu statisch wirkenden Linien entwickelt, dann zur abgelöst eigenständigen Melodie fortgesponnen, bis er sich am Ende aus dem Ensemble zum Solo herauslöst. Andere Abschnitte betonen Freiheit: Soli, Dialoge, Trialoge ziehen große Linien durch die Klanglandschaft, dürfen sich aussingen, ohne sofort wieder im (seltenen) Mischklang eingefangen zu werden.
Rhythmisch basierte Kombinationen weben eine eigene Ebene in die Komposition. Das in der Art des Perpetuum mobile wiederholte Klavier-Pattern (07) möchte gerne wie ein B-A-C-H-Zitat wahrgenommen werden, ist aber gar keines, sondern folgt – viel interessanter – den gleichförmig im 5/4-Takt repetiert perlenden Tönen D-b-a-c‘-b. Der strengen Anlage hauchen das Klavierspiel der rechten Hand im freien Improvisieren und tiefe, getupfte Töne des Serpent die Anmutung des Phantastischen ein.
Dem ›Ensemblespiel‹ steht in manchen Abschnitten das ›Spiel um sich selbst‹ gegenüber. Oft vermittelt die Improvisation in solchen Phasen den Charakter eines schrittweisen, tastenden Suchens, nicht nur im Gehen, sondern auch im Stehen(bleiben), so dass der daraus entwickelte ekstatische musikalische Höhepunkt (wie in 08) wiederum nichts anderes ist, als ein ›auf der Stelle treten‹. Der Kulmination solcher Wege folgt die Meditation, das Sinnieren, wobei manchmal die musikalischen Funktionen vertauscht sind; die Singstimme mit ihrem Obertonspektrum über einem Liegeton gibt zum Beispiel der Baßklarinette die Grundlage für eine sich aussingende, fortspinnende Vokalise (09).
Inspiriert vom ›Peregrina‹-Zyklus Eduard Mörikes (fünf verschleiernd-verklärende Poesien über eine gescheiterte Liebe, 1824-1867), entstand 2004 im Auftrag des Deutschen Literaturarchivs Marbach jene literarisch-vokal-instrumentale Komposition »Ein Traum von wunderbarem Leben« (mit Ulrich Süße), aus deren finalem Abschnitt Patrick Bebelaar musikalisches Material entnimmt (Track 10/11, Sehnsuchtsvolles Grauen). Seinem rückbezüglich-suchenden Charakter, seinen hin- und herwiegenden Klängen wohnt auch in der instrumentalen Ausarbeitung in „Sehnsuchtsvolles Grauen“ (im Gegensatz zur vokal-instrumentalen Fassung des Originals) der Charakter von Sehnsucht und Abschied inne, ein Abgesang von filigran-intimem Reiz.
Deutlicher klingen die Perioden im ›Song for N.‹ (12) herüber, ein wenig selbstversunken freilich, wie aus fahl-schöner Erinnerung ans Licht geholt, ausbalanciert hin- und herwiegend zum Ton gebracht, fein und leise, für sich und in sich abgeschlossen. Als spiele er nicht für uns, sondern parliere mit sich selbst, entblättert der Pianist das Charakterstück dennoch Schicht für Schicht, bis sich der eigentliche Kern der Miniatur für uns Hörer offenbart, der, wenn auch am Ende augenzwinkernd fragend, nur aufrichtige Hommage an N. sein kann.
Booklettext von Dr. Norbert Bolin zur CD, Norbert Bolín, 2009

Pressestimmen zu Gegenwelten – Abgesang:

Es waren die scheinbare Leichtigkeit und zugleich die Intimität, mit der die fünf Musiker Stimmen und Instrumente ineinander woben und die ohne das langjährige Zusammenspiel vermutlich nicht möglich wären.
… ebenso bemerkenswert war die Selbstverständlichkeit, mit der die fünf Musiker Grenzen zwischen Geräusch und Klang verwischten.
… Das Alles drohte in keinem Moment zu kippen. Schmunzelnd konnte man sogar die Zugabe, die sich als „The Lion Sleeps Tonight“ entpuppte, ernst nehmen.
Tübinger Tagblatt, 17.10.2011


… »Gegenwelten – Abgesang«, eine Auftragskomposition der Bachakademie Stuttgart aus dem Jahr 2008. Inspiriert durch »Die Kunst der Fuge«, entwickelt Bebelaar ein hoch komplexes Werk, in dem sich sperrige Jazzthemen und klassische Stilmittel abwechseln.
… Alle fünf sind sie Verfechter der schrägen Töne, des kontrollierten Grenzgängertums, des so noch nie Gehörten. Man registriert ihre Vertrautheit schnell, ihre Virtuosität, auf schmalem Grat zu balancieren, ihre Fähigkeit, auf jede Form von Sicherheit zu verzichten. Man hört den Wunsch der Musiker heraus, sich immer wieder neu zu erfinden, jetzt, in diesem Augenblick präsent, unverwechselbar zu sein.
Reutlinger Generalanzeiger, 17.10.11


Bebelaar Solo // Bebelaar / Godard / Murgia / Kroll / Joos
Mit dem Pianisten Patrick Bebelaar bewiesen die Organisatoren der Jazz- und Klassiktage ein sicheres Händchen für die Auswahl der Musiker.
Am Samstag eröffnete Bebelaar – solo und zusammen mit vier weiteren Musikern – in einem grandiosen Konzert die Jazz- und Klassiktage.
Tübinger Tagblatt, 17.10.2011


Kontrastreicher können zwei Hälften ein und desselben Konzertes kaum sein: Zunächst brannte Patrick Bebelaar bei der Eröffnung der Jazz- und Klassik-Tage ein solistisches Feuerwerk ab, nach der Pause gestaltete sich der Abend im Landestheater LTT avantgardistisch, geradezu ausufernd.
Reutlinger Generalanzeiger, 17.10.11


Von Steppenstaub und Hirtenholz
Zwei neue CDs von Patrick Bebelaar in unterschiedlichen Besetzungen
Eigentlich sah der Kompositionsauftrag der Bachakademie an den Kusterdinger Jazzer Patrick Bebelaar vor, dass es irgendwie um Bach gehen sollte. Aber der führt sein Publikum erst einmal ganz woanders hin. Flötentöne flackern, eine Bassstimme wühlt im Staub der mongolischen Steppe, Klavierakkorde reißen archaische Klangräume auf. »Gegenwelten Abgesang« – schon der Titel verweist auf schroffes Tonland. Und doch hoch faszinierend, so wie das hier zelebriert wird, von Bebelaar am Klavier, von Michel Godard an Serpent und Tuba, von Herbert Joos an Trompete und Flügelhorn, von Gavino Murgia mit Stimme und Saxofon und von Frank Kroll mit Saxofon und Bassklarinette. Zusammen schlagen sie den Bogen von zerklüfteten Ödnissen zu großstädtischer Melancholie. Und lassen dabei zwischendurch auch mal circensischen Humor aufblitzen.
Das Gegenstück dazu ist die CD »The four o’clock session« …
(akr, Reutlinger-Generalanzeiger, 10.3.2010)


Der Pianist Patrick Bebelaar ist ein Grant für ungewöhnliche Klangfarbenspiele. Auf der einen Seite die Verbundenheit mit der Musik eines Johann Sebastian Bach, auf der anderen Seite die Liebe zu hymnischen, beschwörenden, ja fast hypnotisch wirkenden Rhythmen und Sounds aus der Folklore der Welt, insbesondere der fernöstlichen. Um diese Verbindung zur vollen Reife zu bringen, bedarf es einer außergewöhnlichen Instrumentierung, für die in der neunsätzigen Suite „Abgesang – Gegenwelten“ neben dem Pianist und Komponist Patrick Bebelaar, der Franzose Michel Godard mit Serpent, Tuba und E-Bass, Herbert Joos mit Trompete und Flügelhorn, Frank Kroll mit Bassklarinette und Saxophon sowie Gavino Murgio mit Flöte, Saxophon und vor allem Obertongesang stehen und die eine „Weltmusik“ kreieren, die sich in keine Schublade einordnen lässt.
In Frage-Antwort-Fragmenten entstehen kontrastierende Motive, aus einem Duo von OM-Gesängen und Piano oder Flügelhorn entweder ein leichter, beschwingter Lauf im Saxophon, Flügelhorn und perlenden Piano-Linien oder eine getragene, schwermütige Passage. Atemgeräusche lösen den Bläsersound auf, ein anderes Mal hüpft die Tuba in rasenden Schritten. Mal suchend und tastend scheint die Musik auf der Stelle zu treten, dann wiederum treibt sie in eckstatischen Kollektiven über schnatternde und einander umspielende Bläser davon. Klassik, Jazz, Avantgarde und Weltmusik verschmelzen miteinander auf faszinierende Weise. 
Neben der Komposition im Auftrag der Internationalen Bachakademie Stuttgart sind auf der CD eine ästhetisch ausgereifte Arbeit „Sehnsuchtvolles Grauen“ im Auftrag des Literaturarchivs Marbach zu hören, die vom Eduard Mörikes „Perigrina“-Zyklus inspiriert wurde sowie das verklärte, mit Romantizismen durchsetzte Piano-Solo „Natuschkas Song“.
Wie andere Einspielungen von Patrick Bebelaar muss man „Gegenwelten – Abgesang“ mehrfach hören, um alle Raffinessen und Schönheiten zu entdecken. Man kann die Musik aber auch vielfach hören, ohne ihrer überdrüssig zu werden.
Klaus Mümpfer, Jazzpodium 2/10


Seltsame Nachrichten erreichen uns aus dem fernen Kastilien. Dort reagierte der Besucher eines Jazzfestivals derart nervös auf die dargebotene Musik, dass er die Guardia Civil zu Hilfe rief. Was da zu hören sei, sei kein Jazz, sondern zeitgenössische Musik, die Nerven und Ohren schädige. Der Mann verlangte sein Eintrittsgeld zurück, bekam Unterstützung von einem Zivilpolizisten und offenbar auch von Wynton Marsalis, der anbot, den Geschädigten mit dem richtigen Stoff zu versorgen – seinem Gesamtwerk auf CD.
Der bei Tübingen lebende Komponist und Pianist Patrick Bebelaar genießt ja auch den zwiespältigen Ruf, ein unermüdlicher Wanderer zwischen den Welten von Jazz, Klassik, zeitgenössischer Musik und Folklore zu sein. Als „schwierig“ gilt seine Musik, weshalb er in der Region selten live zu hören ist. Dabei will seine Musik nur aufmerksam gehört werden. „The Four O“Clock Session“ … mal ungebrochen lyrisch wie bei Bebelaar Komposition „Natuschka“s Song“.
Dieser Song findet sich übrigens auch auf Bebelaars zweiter Veröffentlichung „Gegenwelten Abgesang“ (ebenfalls auf DML-Records), die eine andere Facette seines Arbeitens zeigt. „Gegenwelten Abgesang“ ist eine ausladende Auftragskomposition zum Europäischen Musikfest Stuttgart 2008, die Bachs „Kunst der Fuge“ als Ausgangsmaterial nimmt, um darauf eine vielschichtige Exkursion für Obertongesang, zwei Saxofone, Tuba, Serpent, Bassklarinette, Trompete, Flügelhorn und Klavier zu gründen. Bebelaar hat vertraute Musiker um sich versammelt, die zuverlässig fein gewirkte Tonfolgen liefern: Michel Godard, Herbert Joos, Frank Kroll und Gavino Murgia machen „Gegenwelten Abgesang“ zu einem anspruchsvollen, aber sehr transparenten Hörerlebnis.
Stuttgarter Zeitung, 24.12.2009, Ulrich Kriest


Dieser direkte Vergleich lässt aufhorchen
Zwei neue, famose CDs des Stuttgarter Jazz-Pianisten Patrick Bebelaar

Der Stuttgarter Pianist Patrick Bebelaar hat zwei sehr unterschiedliche Alben parallel veröffentlicht. „Gegenwelten – Abgesang“ ist seine dritte Auftragskomposition für die Bachakademie, die er beim Europäischen Musikfest in Stuttgart 2008 aufgeführt und wenig später in den Ludwigsburger Bauer-Studios aufgenommen hat. Ausgehend von Bachs „Kunst der Fuge“, hat Bebelaar eine Klanglandschaft der Sehnsüchte erschaffen, an deren Ausgestaltung der sardinische Obertonsänger Gavino Murgia, Trompeter Herbert Joos, Tubist Michel Godard und Holzbläser Frank Kroll mitgewirkt haben. Wie die fünf mit Motiven spielen, Stimmungen und Gefühlszustände formen, ist phänomenal – dieses Album kann die Seele öffnen.
Ganz anders die „Four o“ Clock Sessions“, die Bebelaar Anfang 2009 mit dem Bassisten Joe Fonda und dem Fagottisten Mike Rabinowitz in New York aufgenommen hat. … Zwei Alben, eine Quelle – dieser direkte Vergleich lässt aufhorchen. (ha)
24.12.2009, Stuttgarter Nachrichten, Bernd Hasis


Patrick Bebelaar: Gegenwelten Abgesang
Die Komposition des Jazzpianisten Bebelaar präsentiert unter- schiedliche musikalische Stile: Stimme, Trompete, Flügelhorn, Saxofon, Bassklarinette, Tuba und Serpent weben neuartige melodische Linien aus altem, teilweise barockem musika- lischem Material. Mitreißende Rhythmen ungewöhnlicher In- strumentalkombinationen und in sich versunkene Gesänge einzelner Instrumente geben der Komposition ein faszinie- rendes Klangrelief. Reizvolle Kontraste zwischen Melancholie und ausgelassener Spielfreude. DML-Records 031
Diakonie Magazin 4/2009


Patrick Bebelaar, der Weltmusiker mit Kusterdinger Bodenhaftung, hat im zu Ende gehenden Jahr drei CDs veröffentlicht. Zuerst „Live At The Baxter“, entstanden mit dem Saxofonisten Mike Rossi und Dauerpartner Ulrich Süße in Bebelaars geliebtem Südafrika, während „The Four O´Clock Session“ im vergangenen März in New York eingespielt wurde.
… „Natuschkas Song“, den Patrick Bebelaar wohl seiner Frau Natalia zugeeignet hat, begegnet einem als „Bonus Track“ von Gegenwelten Abgesang wieder., der dritten Jahres-CD. Hier hat Bebelaar gleichfalls zum dritten Mal, im Auftrag der Stuttgarter Bachakademie komponiert; nach Beethoven und Bach (H-Moll-Messe) liefert wiederum der Thomaskantor das Material. Bebelaars Umgang mit der „Kunst der Fuge“ bleibt allerdings spielerisch frei bis zum Äußersten; findungsreich allerhand Verzweigungen und Verästelungen austestend. Unter den vier Mitmusikern fällt besonders der sardische Obertonsänger Gavino Murgia ins Gewicht, der diese Aufnahme eine besondere Note verleiht. Schade, dass der Prophet Bebelaar das eigene Land weitgehend meidet.
Schwäbisches Tagblatt, 30.12.2009


Bach als Vater des Gedankens
Patrick Bebelaars und Caroline Thons Annäherungen an die „Kunst der Fuge“ im Mozartsaal
Von Werner Müller-Grimmel
„Metamorphosen“ hat der römische Dichter Ovid einst seine großangelegte Sammlung von Mythen genannt, in denen „Gestalten in neue Körper verwandelt“ werden. In diesem Sinne haben Patrick Bebelaar und Caroline Thon ihrer musikalischen Auseinandersetzung mit Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“ den Titel „Metamorphosis“ gegeben. Das im Auftrag der Bachakademie entstandene, etwa eineinhalbstündige Stück für zwei Jazz-Ensembles entpuppte sich bei der Uraufführung im Mozartsaal als Folge von zwei unabhängig voneinander entwickelten, über gemeinsame Improvisationsteile verbundenen „Reflexen“ auf die Bach-Vorlage.
Neu, wie im Programmbuchtext behauptet wird, ist derlei Spiel mit Bachs „Kunst der Fuge“ indessen keineswegs. Nach klassisch-romantischen „Antworten“ auf das kontrapunktische Wunderwerk hat es auch im Jazz- und Rock-Bereich immer wieder Adaptionsversuche gegeben, und selbst zwischen all diesen stilistischen Codes sind längst Versuche unternommen worden, durch eine Synthese oder Konfrontation von Bachs strenger Klangwelt und dem spontanen Gestus improvisatorischer Musikformen kompositorisches Neuland zu gewinnen und so avantgardistischer Sterilität zu entrinnen.
Als eine Art Prolog diente ein vorsichtig wie von ferne um die Grundtonart von Bachs Fugenkompendium kreisendes Duo, mit dem sich Thon (Saxofon) und Bebelaar (Klavier) als musikalische Köpfe ihrer Formationen vorstellten. Zur folgenden ersten „Verwandlung“ kamen Junia Vent (Gesang), Norbert Scholly (E-Gitarre) und Christoph Hillmann (Schlagzeug) auf die Bühne und tasteten sich zusammen mit Thon über leicht fernöstlich getönten, stimmungsvoll gesteigerten und wieder verebbenden Kerzenlichtjazz in Moll heran an etwas buchstabiert wirkende Zitate Bach“scher Themenfragmente.
Thons „Bearbeitung“ möchte den Bezug zur Vorlage durch Übertragung des Gegensatzes von strengem Stimmensatz und freieren Zwischenspielen bei Bach in den formalen Wechsel festgelegter und frei improvisierter Abschnitten herstellen und dabei gegensätzliche Affekte aufeinanderprallen lassen. Über weite Strecken entstand bei der Uraufführung jedoch der Eindruck, dass die „Kunst der Fuge“ hier nur aus großer Entfernung von außen „betrachtet“ wurde. Vor allem die improvisatorischen Teile hatten mit dem vorgegebenen Thema kaum zu tun und blieben stattdessen recht bescheiden und ziellos im Rahmen bewährter Patterns.
Dichter an Bach zeigte sich Bebelaars „Verwandlung“, die sich auf das erste Thema des unvollendeten „Contrapunctus XIV“ stützt, Motive daraus abspaltet, umformuliert, ungeahnte, quasi multikulturelle Verwandtschaften freilegt und in neuem stilistischem Umfeld weiterspinnt. Da isolierte beispielsweise Gavino Murgia (Bass und Saxofon) den eröffnenden Quintsprung und rückte ihn mit grabestiefer, über Mikrofon verstärkter und nasal gefärbter Stimme in die Nähe buddhistischer Tempelgesänge, die dann über vokale Perkussionslaute funkig unterlegt wurden. In die anschließende Folge absteigender Töne schlich sich unauffällig eine übermäßige Sekund, die Türen für Exkurse in außereuropäische Gefilde öffnete.
Frank Kroll (Saxofon) und Michel Godard (Tuba, Serpent) reagierten hellwach und virtuos auf solche Vorgaben, und Patrick Bebelaar selbst demonstrierte im sensiblen Dialog mit ihnen ebenso wie gelegentlich mit donnernd auf die Tastatur niedersausenden Ellbogen nicht nur seine enorme technische Bravour, sondern auch seine poetische, höchst originelle Klangfantasie. 01.09.2008


INTERVIEW CAROLINE THON UND PATRICK BEBELAAR, JAZZMUSIKER
Bachs „Kunst der Fuge“ aus heutigem Blickwinkel
29.08.2008
„Etwas unheimlich Spielerisches“: „Metamorphosis“ verbindet beim Musikfest strenge Polyphonie und freie Improvisation
Stuttgart – Morgen steht beim Europäischen Musikfest Bachs „Kunst der Fuge“ im Mittelpunkt. Dazu gibt es die Uraufführung von „Metamorphosis – Reflexe auf die Kunst der Fuge“, einer Gemeinschaftskomposition der Saxofonistin Caroline Thon und des Pianisten Patrick Bebelaar. Dietholf Zerweck sprach mit den beiden Jazzmusikern.
Warum setzen Sie sich als Jazzmusiker mit klassischer Musik aus einander?
Thon: Das hängt doch alles zusammen. Es gibt doch keinen Jazzmusiker, der nicht von Messiaen beeinflusst worden wäre. Und Bach ist auf jeden Fall wichtig.
Bebelaar: Ich bin mit klassischer Musik groß geworden, später kam die Folklore dazu. Für Jazz habe ich mich erst in meiner pubertären Emanzipation, sozusagen als Revolte, entschieden. In meiner Musik spielt der Jazz genauso viel oder wenig eine Rolle wie Weltmusik, Volksmusik, Kunstmusik.
„Metamorphosis“ ist Ihr jüngstes Auftragswerk für die Bachakademie. Worin unterscheidet es sich von den beiden früheren?
Bebelaar: „Point of View“ war stark gegenläufig zu Beethovens Musik, auf deren Charakter ich mit dem Einsatz indischer Musik antwortete. Bei „Pantheon“ war alles sehr analytisch durchdacht, wobei ich Stilmittel aus der h-Moll-Messe von Bach in meine Musik übertrug. Diesmal ist es für mich eine ganz neue Erfahrung, ein Stück zu zweit zu komponieren. Caroline macht einen Teil für ihre Besetzung, ein anderer Teil ist mein Konzept, wir nennen das „Lichtwinkel“. Und dann haben wir versucht, in drei „Prismen“ beide Reflexe auf Bachs „Kunst der Fuge“ zu harmonisieren.
Wie ist die Rollenverteilung in Ihrem Stück?
Bebelaar: Der Kompositionsauftrag wurde unter dem Aspekt vergeben: Was ist alles möglich, um mit unseren Ausdrucksmitteln auf das Werk Bachs zu reagieren? Das hat etwas unheimlich Spielerisches. Was kann alles passieren, wenn wir mit Fugen, Polyphonie, Stimmfarben improvisatorisch umgehen.
Thon: Einerseits ist Bachs „Kunst der Fuge“ zwar ein Schulwerk, aber ich habe das Gefühl, dass er ständig Regeln bricht. Das passiert auch im Jazz. Ich habe noch nie so viele Kanons geschrieben wie bei „Metamorphosis“. Die Keimzellen der Exposition sind streng komponiert, die Durchführung ist möglichst frei für die Improvisationen der Musiker.
„Metamorphosis“ beginnt morgen um 20.30 Uhr im Mozartsaal der Liederhalle


Jazz-Reflexe auf Bach
03.09.2008
Patrick Bebelaars und Caroline Thons „Metamorphosis“
Von Dietholf Zerweck
Stuttgart – Weniger feierlich, dafür rhythmisch explosiv und mit anarchischem Freejazz gewürzt, ging es bei Patrick Bebelaars und Caroline Thons „Metamorphosis“ zur Sache. Zwei originelle Quartette boten eine Melange ganz unterschiedlicher Musikstile, in denen zwischendurch auch Floskeln und Motive aus Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“ verarbeitet wurden. Zusammen mit Thons groovigem Saxophon erzeugte die Sängerin Junia Vent gewöhnungsbedürftige esoterische Vibrations, während im „Lichtwinkel T“ benannten Teil die beiden anderen Band-Mitglieder Norbert Scholly (Gitarre) und Christoph Hillmann (Schlagzeug) in verschiedenen Richtungen von Weltmusik unterwegs waren.
Mantras und Klavier-Cluster
Nachdem zu Beginn Thon und Bebelaar einander im „Prisma K“ mit Mantra-Figuren des Saxophons und Klavier-Clustern begegnet waren, trafen sich alle acht Musiker im mittleren „Prisma D“ zum Balkan-Bossanova. Dann begann der französische Tuba-Spieler Michel Godard lustvoll zu rocken, sein Duo mit den sardischen Kehlkopfgesängen des phänomenalen Gavino Murgia steigerte sich zum explosiven Höhepunkt des eineinhalbstündigen Konzerts. Von den kultischen und ri tuellen Ethnomusik-Mustern ging es dann zusammen mit Frank Kroll (Bssklarinette) und Patrick Bebelaar stärker in Richtung Polyphonie: Der Pianist variierte in seinem Teil von „Metamorphosis“ das B-A-C-H-Motiv und zitierte aus dem letzten Contrapunctus des „Kunst der Fuge“-Zyklus. Zyklisch wirkte dann auch im „Prisma F“ – die Initialen der drei Prismen beziehen sich ebenfalls auf die „Kunst der Fuge“ – das Zusammenspiel der beiden Bands, in dem sozusagen in Engführung Themen und Spielweisen der vorangegangenen Teile weiter verarbeitet wurden.
Freizügig improvisiert
Vent und Murgia, die beiden so unterschiedlichen Sänger, stimmten im „Prisma F“ einen veritablen Kanon an, über den die übrigen Musiker freizügig und einfallsreich improvisierten. Godard griff zum Serpent und evozierte mittelalterliche Melancholie, von den Saxophonen wurden barocke Themenkerne wie verschüttete archäologische Fundorte freigelegt. Was ein wenig pop-beliebig begonnen hatte, verdichtete sich zu einem originären „Reflex“ auf das von der Bachakademie in ihrem Auftrag vorgegebene Bach-Werk. Dessen Metamorphose jedoch fand – zum Glück – kompositorisch nicht statt.