JAHRESZEITEN
Patrick Bebelaar, Günter „Baby“ Sommer, Frank Kroll & Herbert Joos 

Es ist der Lauf der Jahreszeiten, der unserem Leben Struktur verleiht. Jede Zeit hat ihre Eigenarten, die das Jahr prägen. Jeder der Solisten steht ganz allein und unverwechselbar für sich selbst. Gemeinsam verschmelzen jedoch die künstlerischen Persönlichkeiten miteinander, so wie die Jahreszeiten ineinander übergehen. Wie der Kälteeinbruch im Frühjahr und der spätsommerliche Herbsttag brechen die Vier immer wieder klare Strukturen auf und lassen so eine einzige neue Jahreszeit entstehen. Aus diesem Gedanken entstand das außergewöhnliche Quartett mit dem Pianisten Patrick Bebelaar, dem Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer, dem Bassklarinettisten Frank Kroll und Herbert Joos an Trompete und Flügelhorn.
Das vielseitige Zusammenspiel haben alle vier Musiker über viele Jahre in unterschiedlichstenKombinationen leidenschaftlich erprobt. Herbert Joos, Frank Kroll und Patrick Bebelaar blicken auf zahlreiche gemeinsame Konzerte, Radio- und CD-Produktionen zurück. Günter „Baby“ Sommer und Patrick Bebelaar wurde für ihre gemeinsame CD (im Trio m20161016_221214it dem Tubisten Michel Godard) von der amerikanischen Fachzeitschrift THE NEW YORK CITY JAZZ RECORD als ALBUM OF THE YEAR 2014 ausgezeichnet. Auch Joos und Sommer standen über die vielen Jahre ihres künstlerischen Schaffens immer wieder gemeinsam auf der Bühne.

Günter „Baby“ Sommer ist einer der bedeutendsten Vertreter des zeitgenössischen europäischen Jazz, welcher mit einem hoch individualisierten Schlaginstrumentarium zugleich eine unverwechselbare musikalische Sprache entwickelt hat. Sein musikalisches Werk beinhaltet Beiträge zu den wichtigsten Jazzgruppen der DDR, wie dem Ernst-Ludwig-Petrowksy-Trio, dem Zentralquartett und der Ulrich Gumpert Workshop Band. Sommer traf mit so Musikern wie Peter Brötzmann, Fred van Hove, Alexander von Schlippenbach, Evan Parker und Cecil Taylor zusammen. Sommers Solospiel sensibilisierte ihn für Kollaborationen mit Schriftstellern wie Günter Grass. Seine Diskografie umfasst über 100 veröffentlichte Audio-Datenträger. Als Professor an der Musikhochschule in Dresden nimmt er Einfluss auf die professionelle Vermittlung des zeitgenössischen Jazz an die nachfolgenden Generationen.

Herbert Joos hat nicht nur den Jazzpreis des SWF bekommen, er hat sich auch als jahrelanger Solist des „Vienna Art Orchesters“ und des „Orchestre National de Jazz“ weltweit einen Namen gemacht. Er nahm zahlreiche CDs unter eigenem Namen auf, unter anderem auch für das renommierte Jazz-Label ECM, für das er zusammen mit den Stuttgarter Symphonikern aufnahm. Die Liste der Musiker, an deren Seite er zu hören war, ist unendlich lang. 2017 wurde Herbert Joos mit dem Ehrenpreis für sein Lebenswerk durch das Land Baden-Württemberg ausgezeichnet.

Frank Krolls eigener, von verschiedenen Kulturen beeinflusster Instrumentalstil, macht ihn zu einem außergewöhnlichen Musiker. Als solcher spielte er auch in den Projekten  der indischen Musiker Pandit Vikash und Prakash Maharaj, dem Schweizer Schlagzeuger Pierre Favre oder mit der französischen Tubalegende Michel Godard. 2003 wurde Kroll mit dem Jazzpreis des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet. Seine Einspielungen sind auf verschiedensten Jazzlabels zu finden, u.a. auch beim Münchner Label ECM.

Patrick Bebelaar wurde im Jahr 2000 mit dem Jazzpreis Baden-Württemberg ausgezeichnet. Er komponierte im Auftrag der Internationale Bachakademie (2002, 2005, 2008), des Deutschen Literaturarchivs, der Stadt Esslingen u.v.a., arbeitet seit vielen Jahren mit internationalen Kollegen wie Joe Fonda, Gavino Murgia, Michel Godard, Günter Lenz u.v.a. Spartenübergreifend trat er mit Schriftstellern wie Peter O. Chotjewitz, Peter Härtling, Oskar Pastior und Adonis auf. Konzertreisen führen ihn immer wieder nach Indien, Südafrika, Russland, die USA, Dubai und natürlich durch Europa. Bebelaar gehört zu den wichtigsten kreativen deutschen Pianisten und wurde schon mehrfach zu den „besten deutschen Pianisten“ gezählt (BNN, 2012). Seine CD Stupor Mundi wurde 2015 mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet.

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Presse:
„Der Pianist  fächert mit emotionaler Intelligenz und Phantasie die Harmonien auf, führt sie vom Rauen ans Licht und beflügelt mit seiner Virtuosität die Kollegen. Deren musikalischer Flug führt über schroffe Klanglandschaften, idyllische Täler, luftige Höhen, mitten hinein ins Geräuschchaos der Städte. Und schließlich dahin, wo die Liebe wohnt.“
Thomas Staiber, Esslingen Zeitung, 18.10.2016

In diesem Quartett stimmte die Chemie nicht nur, sie war perfekt in ihrer Imperfektion, empathisch in der Qualität der non-verbalen Kommunikation. Ein ruppiger Kosmos, der die Grenzen zwischen Melodie und Free, zwischen Komposition und Improvisation lustvoll auflöste. Eine außergewöhnliche Hörerfahrung, die Freude bereitete.“
Eric Zwang-Eriksson, Augsburger Allgemeine, 17.10.2016 

Ikarus lernt, nicht abzustürzen
Aufruhr, Brüche und melancholische Schönheit / Ein kautziges Konzert zu Ehren des Trompeters Herbert Joos im Jazzclub 88
Wer der Sonne zu nah kommt, verglüht und stürzt ab, wer der Schönheit verfällt, der versinkt im Kitsch. Wie man nun aber den Glutkern unserer Emotionen umspielt, ohne dabei zu verbrennen, das führte das an diesem Abend famos aufgekratzte Quartett mit Herbert Joos vor. Eine intensive Lehrstunde des Mutes zu Freiheit und Risiko: voll kauziger Clownerien. Jazz!
Vier Virtuosen aus zwei Generationen, denen besonders der Umgang mit den unkonventionellen Klangmöglichkeiten ihrer Instrumente gemeinsam ist. Die sind allesamt befreit von einer klassischen Verengung auf reine Töne und spezifisch- definierte Funktionen im Orchester.
Der Trompeter Herbert Joos etwa besticht mit seinen Überblastechniken, die den Widerstand zwischen Atem und Material des Instrumentes eben nicht zum Verschwinden bringen, sondern als Klang eigenen Rechts zur Mitsprache am Sound einladen. Günter „Baby“ Sommer wiederum hat das Arsenal des Schlagzeugs um alle möglichen perkussiven Gerätschaften erweitert, und auch er reibt sich – im doppelten Wortsinn – am Konflikt des individuellen Materialklangs mit seiner bloßen Rhythmusfunktion.
Beide sind Kombattanten des Aufbruchs der 60er Jahre, als sich die Pop-Musik (also auch der Jazz) von ihrer Wohlgefälligkeit befreite und bisher unerhörtes Terrain eroberte. Dieser Widerstand ist bei beiden – allerdings weniger tabubesetzt als bei den radikalen Free-Jazzern – immer noch ein treibender Grundimpuls ihrer Musik.
Ähnlich und anders der Pianist Patrick Bebelaar und der Saxofonist Frank Kroll. Diese in die Postmoderne geborenen Musiker sind versöhnlicher gestimmt auf Rückbesinnungen und Erweiterungen. Im Gegensatz zu ihren Mitspielern, den berserkerhaften Revolutionären, könnte man sie als hochreflektierte Romantiker, melancholische Dandys der globalen Verfügbarkeiten betrachten. Beides zusammen reflektiert die Bewusstseins- und gemischte Gefühlslage eines heutigen, avancierten und aufgeklärten Publikums.
Atemberaubend, wenn sich Bebelaar in einem elaborierten Solo von einem aufmunternden Perlen in unglaublich gegenläufige Rhythmusfiguren steigert – fast zu souverän, ertappt man sich zu denken -, um sich aber dann in einem abgründig seriellen Gehämmer zu verlieren, das an die Piano- Player-Kompositionen eines Colon Nancarrow erinnert und artistische Subjektivität an künstliche Mechanik abzugeben scheint!
Überirdisch, wenn Frank Kroll in seinem Stück „Peacock“ auf dem Sopransaxofon orientalische Skalen mit westlicher Sehnsucht vermählt und Bebelaar dazu die Saiten seines Flügels wie eine zarte Oud zupft.
Und dann, immer wenn’s zu schön wird, geht Herbert Joos dazwischen, grunzt, schneidet und stichelt in die aufkommende Hör-Gemütlichkeit. Und gerade das macht klar, um was es da geht. Wir sehen und hören Artisten, die alles riskieren. Es sind die Clownerien, mit denen sie die Götter besänftigen wollen, den Absturz in die Überheblichkeit vermeiden. Sowohl Joos wie „Baby“ Sommer sind jederzeit bereit, die sakrale Anmutung eines Konzerts durch Humor, Albernheiten und schräge Ausbrüche zu unterlaufen oder bloßzustellen. Nur so schützt sich Ikarus vorm Abstürzen.
Und was für eine stilistische Offenheit. Bebelaars „Never thought it could happen“ entwickelt sich zu einem heavy Blues, aus dem Joos in eine spillrige Be-Bop-Nervosität als Hommage an Dizzy Gillespie ausbricht, die von Sommer dann mit dem Schlagen des Totenglöckchens – Punkt neun Uhr abends – zu Grabe gelegt wird.
Fast schon ein Jazz-Pop-Stück das schöne „Natuschkas Song“. Dagegen das Anklopfen an der Unterwelt in Günter „Baby“ Sommers großem Percussion-Solo. Zwischen archaischer Totenbeschwörung und groteskem Gespenster-Gepolter scheint hier sowohl die ganze Gattungsgeschichte wie die besondere Kriegserfahrung von Sommers Generation bearbeitet. Furcht und Zwang, die in den Knochen und Drumsticks stecken. Gerade auch mit diesem Solo wurde deutlich, wie viel wir dem Jazz als befreiendem Medium unserer Erfahrungen zu verdanken haben.
Darauf Anarchismus und Spott pur in der Zugabe. Ein ziemlich abgefahrenes Gebräu aus Rag und Tango. Eine grandiose Zirkusnummer. „Send in the Clowns“!
Rems-Murr Rundschau, Thomas Milz, 19.06.2017